Der Standortälteste ist ganz angetan und eilt geschwind durchs Amt, die frohe Botschaft auf den Lippen: “In unserem Ressort sollen Regelbeurteilungen für alle Beschäftigten kommen. Und zwar nicht vom popeligen Sachgebietsleiter, sondern vom Dienstvorgesetzten - also von ganz oben.“ Mit verklärtem Blick richtet er die Arme himmelwärts und schwärmt drauf los: „Das wird ganz toll in unserem Laden. Wir sind über 400 Beschäftigte, und bisher kennt der Boss nicht mal alle, geschweige denn mit Namen. Das würde sich schlagartig ändern: Mit der Regelbeurteilung kommt man sich automatisch näher. Beinahe von Kollege zu Kollege, wie auf Du und Du und fast auf Augenhöhe. Regelmäßige Besuche vom Chef, vielleicht von Zeit zu Zeit ein gemeinsames Bürofrühstück mit handgebrühtem Bohnenkaffee und Butterhörnchen, da kann man beim Boss glänzen und mit seinen Kenntnissen brillieren. Und wenn man dann gemeinsame Steckenpferde hat, wie zum Beispiel ausgestopfte Schmetterlinge sammeln, dann tauscht man nach Dienstschluss oder huscht am Wochenende gemeinsam durch Wald und Flur mit Botanisiertrommel und Catcher bewaffnet auf der Jagd nach den scheuen Flattermännern. Oder man hat eine verbindende Leidenschaft wie das Rauchen, naturgemäß trifft man sich regelmäßig selbst bei Regen, Schnee und Eis in der schnuckeligen Raucherecke im Hof. Das schweißt zusammen.“
Ein Kollege fasst sich an den Kopf: „Der Chef weiß doch gar nicht, was wir tatsächlich im Detail tun. Bei über 400 Leuten ist der arme Kerl doch völlig überfordert, mir ginge das genauso. Da wird ihm dann doch nur alles auf dem Dienstweg zugetragen vom Referenten über den Referatsleiter und den Abteilungsleiter. Wie Stille Post. Beurteilungen vom Hörensagen. Das ist, wie wenn man die Sonnenfinsternis bei Nebel in der Turnhalle nachstellt.“
Und eine andere Kollegin: “Das ganze Beurteilungswesen ist flüssiger als Wasser, also überflüssig. Es schafft nur künstliche Konkurrenz und macht zusätzlich Stress. Wegen zwei Zehntel besserer Note kriegen sich die Kollegen in die Haare, oder das Klima wird schlechter wegen Neid. Und das, obwohl bei uns andauernd Personal eingespart wird und wir die Arbeit gemeinsam von den Ausgeschiedenen erben. Wird uns dann auch noch zusätzlich Arbeit von den Vorgesetzten aufgesackt, weil diese die meiste Zeit mit der Beurteilerei verbringen? Prost Mahlzeit! Gibt es denn sonst nichts zu tun?“
All das beeindruckt den Standortältesten in keinster Weise, er schwelgt weiter: „Die Regelbeurteilung zeigt einem, dass man ein wertvoller Mensch ist, der endlich ernst genommen wird. Und wenn die Beurteilung von ganz oben kommt, das ist wie eine höhere Weihe. Erst dann kann man wirklich aufrecht durchs Leben gehen. Und wenn man nach erfolgter Beurteilung noch eine schöne Plakette verliehen bekäme, so wie die Umweltplakette „Blauer Engel“, die Seligkeit wäre total. Man wäre quasi TÜV-geprüft mit Brief und Siegel.“
Peter Garrelmann