5 % aller Beschäftigten gelten als alkoholabhängig, weitere 10 % als stark gefährdet. Suchtprobleme bedeuten häufig individuelle Tragödien für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Suchterkrankungen haben jedoch auch massive Auswirkungen im Berufsleben durch erhöhte Fehlzeiten, Leistungseinbußen, gesteigerte Unfallgefahren. Auch das Betriebsklima leidet. Am Arbeitsplatz besteht somit ein Bedarf, aber auch die Chance auf Betroffene einzuwirken. Die Dienstvereinbarung Sucht gibt Vorgesetzten und Beschäftigten den Rahmen für den Umgang mit Suchtproblemen am Arbeitsplatz. In erster Linie sind es die Vorgesetzten, die die Dienstvereinbarung Sucht kennen und umsetzen sollen. MUMM wollte erfahren, wie sie im Arbeitsalltag tatsächlich angewendet wird und befragte deshalb Frau T. Sie ist Vorgesetzte von 38 MitarbeiterInnen.
MUMM: Kennen Sie die Dienstvereinbarung Sucht?
Frau T.: Im Rahmen einer Fortbildung habe ich die Dienstvereinbarung Sucht schon vor mehreren Jahren kennengelernt. Vor ca. einem halben Jahr habe ich zum ersten Mal auf die Dienstvereinbarung zurückgegriffen.
MUMM: Mögen Sie uns schildern, wie es dazu kam?
Frau T.: Ein Kollege fiel seit einem längeren Zeitraum auf durch zunehmende Fehlzeiten, besonders am Montag. Hinzu kamen kurzfristige Abmeldungen von nachmittäglichen Dienstbesprechungen. Auch zeigte er keine Bereitschaft mehr, sich an Sonderaufgaben zu beteiligen. Es wurden des Öfteren Konzentrationsmängel, geringe Merkfähigkeiten, starke Unsicherheit und zeitweise ein ungepflegtes Erscheinungsbild von verschiedenen Kollegen, aber auch von mir wahrgenommen. Gleichzeitig fielen mir bei morgendlichen Begegnungen die glasigen Augen des Kollegen auf, und ich hatte das Gefühl, eine leichte Alkoholfahne zu riechen. Hin und wieder wurde ich seinerzeit auch bereits auf den Kollegen angesprochen. Niemand ist bis dahin davon ausgegangen, dass der Kollege an einer Suchterkrankung leiden könnte.
MUMM: Welcher Impuls hat bei Ihnen den Gedanken ausgelöst, dass es sich bei dem Kollegen doch um eine Suchterkrankung handeln könnte?
Frau T.: In der Fortbildung habe ich gelernt, dass die Wahrnehmung von Alkoholgeruch mit nahezu 90 %iger Sicherheit auch zutrifft. Durch die Tatsache, dass mich gleichzeitig mehrere KollegInnen wegen unterschiedlicher Auffälligkeiten angesprochen haben, führte ich diesbezüglich zunächst ein Gespräch mit meiner Stellvertretung. Sie hatte ebenfalls Anzeichen ähnlicher Art registriert, jedoch keine Suchterkrankung vermutet.
MUMM: Wie sind Sie weiter vorgegangen?
Frau T.: Meine Stellvertretung und ich haben uns verabredet, vor Dienstbeginn mit dem betroffenen Kollegen so oft es geht ein kurzes Gespräch zu führen und alle Auffälligkeiten zu dokumentieren. Über die weitere Vorgehensweise habe ich mich dann mit einer Suchtkrankenhelferin ausgetauscht. Deren Unterstützung war für mich ausschlaggebend. Ich habe gleich am nächsten Tag nach Dienstschluss das Erstgespräch nach der Dienstvereinbarung Sucht mit dem Kollegen geführt.
MUMM: Wie verlief das Gespräch?
Frau T.: Zu meinem großen Erstaunen war der betroffene Kollege spürbar offen und in großen Teilen auch erleichtert. Er gestand ohne Umschweife einen regelmäßigen starken Alkoholkonsum. Allerdings wollte er sich nicht in eine professionelle Behandlung begeben. Ich habe stattdessen mit ihm verabredet, dass er sich eine Selbsthilfegruppe sucht oder dass er sich bei einer der dienstlichen Suchtgruppen meldet und dort regelmäßig an den Treffen teilnimmt. Außerdem führen wir ca. alle 6 Wochen ein Gespräch zur aktuellen Situation. Ich habe dem Betroffenen mitgeteilt, dass ich bei Verstößen gegen die Auflagen die nächste Stufe der Dienstvereinbarung einleiten werde.
MUMM: Gab es Reaktionen aus der Kollegenschaft?
Frau T.: Einige Kollegen haben den Betroffenen auch direkt angesprochen, weil sie Alkoholgeruch wahrgenommen hatten und sich große Sorgen um seinen Gesamtzustand machten. Das ist ihnen aber nicht leicht gefallen. Ich habe sie darin bestärkt.
MUMM: Mögen Sie eine abschließende Bewertung treffen?
Frau T.: Inzwischen sind ca. 5 Monate vergangen, der Kollege ist unauffällig. Die Zusammenarbeit ist einvernehmlich. Die Dienstvereinbarung Sucht ist sehr wichtig! Sie hat mich in meinem Tun sehr unterstützt. Allerdings waren in meinem Fall in erster Linie die direkten Hinweise durch die Kollegen und die Kompetenz und Unterstützung der Suchtkrankenhilfe ausschlaggebend.
MUMM: Wir bedanken uns sehr für das Gespräch.
Das Interview führte für MUMM Nicoletta Witt
Die neu gefasste Dienstvereinbarung Sucht ist am 11. Oktober 2012 unterzeichnet worden. Die Dienstvereinbarung ist erhältlich unter dem Menüpunkt Dienstvereinbarungen.