Die Wahl scheint gelaufen zu sein. Wenn nicht noch ein ganz dummer Fehler passiert, dann wird die amtierende Bundeskanzlerin auch die künftige sein - so denken viele. Abgehakt ist die Wahl aber noch lange nicht. Zwar glauben immer noch viele Menschen, Angela Merkel wählen zu müssen, um sicher vor der Eurokrise zu sein. Aber die Anzeichen mehren sich, dass das dicke Ende bald kommt. Schon bricht der deutsche Export ins Euroland ein. Die Weltkonjunktur schwächelt. Vor dem Drama der Jugendarbeitslosigkeit in Europa, von der inzwischen jeder vierte junge Mensch betroffen ist, kann niemand mehr die Augen schließen. Immer mehr Menschen fragen sich, ob die harte Kürzungspolitik in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland die Krise verschärft, statt sie zu lösen.
Manche denken, ohne den Euro wären wir sicherer. Weit gefehlt. Es gibt in Europa keinen Gegensatz zwischen Menschen in Deutschland, Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien usw. Es gibt nur immer schärfere Gegensätze zwischen denen, die die Krise verursacht haben und davon profitieren, die Akteure auf den Finanz- und Kapitalmärkten, und denen, auf deren Kosten diese Krise gelöst werden soll: In erster Linie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihre Familien und alle, die auf Bildung, gute soziale Einrichtungen, eine gute Infrastruktur und soziale Sicherheit angewiesen sind. Sie wollen ein soziales und ein demokratisches Europa und kein "weiter so in die Krise hinein".
Dass es auch in Deutschland nicht so weitergehen kann, dafür treten drei Viertel aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ein, die sich für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn aussprechen. Selbst 57 % der von Forsa befragten Manager halten einen Mindestlohn von mehr als 8,50 Euro für gerechtfertigt.
Die Forderung von Union und FDP, eine "Lohnuntergrenze in tariffreien Zonen" zuzulassen, ist ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Denn was ist unten? 4 Euro in Sachsen, 6 Euro in Bremen oder 10 Euro in München? Und wie viele Tarifverträge müssten denn abgeschlossen werden, um alle Lücken zu schließen? Und wer kann dieses Wirrwarr wirksam kontrollieren?
Neue Mehrheiten bilden sich auch, wenn es um sichere Arbeit geht. Vom Praktikum in die Befristung und dann auf Jahre hinaus nur eine Befristung nach der anderen - das kann doch nicht der Weg in den Beruf für Millionen junger Menschen sein. Wie sollen sie ihr Leben planen, Erfahrungen in ihrem Beruf erwerben? Die sachgrundlose Befristung muss aus dem Teilzeit- und Befristungsgesetz gestrichen, die Sachgründe überprüft werden. Aufgelöst werden muss die Teilzeitfalle, in die vor allem Frauen geraten sind. Das Recht auf Teilzeit muss durch das Recht auf die Rückkehr zur Vollzeit ergänzt werden. Leiharbeit braucht Equal Pay und die Begrenzung der Höchstüberlassung. Werkverträge müssen strikt begrenzt, Missbrauch beseitigt werden. Umgewandelt werden müssen die Minijobs in sozial gesicherte Teilzeit.
Die Arbeitgeberverbände behaupten, flexible und unsichere Arbeit sei von den Menschen gewollt. Sie sollten sich besser in den Betrieben und Verwaltungen auskennen.
Wie eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt aussehen soll, darum drückt sich die Union und bleibt lieber wolkig, während SPD, Grüne und Linke die Gewerkschaftsforderungen weitgehend in ihre Programme aufgenommen haben.
Aber an einer Stelle bleibt die Schwarz-Gelbe Koalition knallhart. Umverteilt wird nicht! Dass die Kommunen immer weiter kürzen, dass die Bürgerinnen und Bürger auf immer mehr öffentliche Dienstleistungen verzichten müssen, dass inzwischen ein gigantischer Investitionsstau in Krankenhäusern, Schulen, Hochschulen, Verkehrswegen, in Kultur- und Freizeiteinrichtungen droht - das kümmert die Regierungsparteien nicht. Ihre Helfershelfer lügen und betrügen: Über 300.000 Arbeitsplätze würden die Steuerpläne von Rot-Grün kosten, hat das Institut der deutschen Wirtschaft ausgerechnet. Steuererhöhungen träfen vor allem die kleinen Leute, behaupten die Verteidiger der Reichen und Superreichen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Bielefelder Sozialhistoriker Hans Ulrich Wehler hat ausgerechnet, dass von 2000 bis 2020 allein über 4 Billionen Euro in Deutschland vererbt werden. Gäbe es eine Erbschaftssteuer von 50 Prozent wie in anderen europäischen Ländern - so Wehler - dann hätten allein die Länder, denen diese Steuer zusteht, 2 Billionen Euro Steuereinnahmen. Deutschland bräuchte keine Schuldenbremse, es gäbe Geld genug für Bildung, Soziales, Gesundheit, Stadtentwicklung, bezahlbaren Wohnraum und vor allem für die Menschen, die die Dienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger tagtäglich erbringen. Was die Gewerkschaften und die Oppositionsparteien fordern, kann angesichts des immensen Reichtums in diesem Lande nur der Anfang des Umverteilens von oben nach unten sein.
Die veröffentlichte Meinung, die ja meistens die Meinung der tonangebenden Verleger und Chefredaktionen darstellt, inszeniert den Wahlkampf als Schaukampf zwischen der schwäbischen Hausfrau und dem trotteligen Peer, der immer über die eigenen Füße stolpert. Aber hinter den Kulissen tobt eine knallharte politische Auseinandersetzung zwischen denen, die noch unsicherere Arbeitsverhältnisse, noch mehr Hungerlöhne, einen noch ärmeren Staat und die Spaltung Europas in Kauf nehmen, um ihre Macht und ihren Reichtum zu verteidigen und denen, die gute und sichere Arbeit, Steuergerechtigkeit und einen handlungsfähigen Sozialstaat wollen.
Ich empfehle: sich informieren, sich einmischen, die Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien zur Rede stellen. Und dann vor allem: Wählen gehen! Eines ist sicher: Danach geht die Auseinandersetzung um gute Arbeit und Umverteilen erst richtig los.
Wolfgang Uellenberg-van Dawen