Durch die vielen Flüchtlinge, die dieses Jahr zu uns gekommen sind, hat sich so Manche/r zu wortschöpferischen Höhenflügen berufen gefühlt. Meistens endeten die allerdings mit Bruchlandungen, Wörtern, die allenfalls als Kandidaten für die alljährliche Auszeichnung zum Unwort des Jahres taugen. Ich will sie hier nicht alle wiederkäuen und damit womöglich noch aus Versehen zu deren weiterer Verbreitung beitragen. Stattdessen will ich mich mit meinem persönlichen Favoriten befassen, einem Wort, das auf den ersten Blick nüchtern und neutral daherkommt, das seit dem Sommer ganz tief in unserem Vokabular Wurzeln geschlagen hat, das bedenken- und gedankenlos landauf, landab verwendet wird und doch ein ganz schiefes Bild vermittelt. Ich kriege die Krise, wenn ich von der „Flüchtlingskrise“ höre oder lese.
Das Wort Krise kommt ursprünglich vom altgriechischen "krísis", dort heißt es etwa "entscheidende Wendung". Im Deutschen bedeutet Krise laut Duden "schwierige Lage, Situation, Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt". In einer schwierigen Situation sind wir, ganz ohne Frage. Dass sich viele durch diese Situation verunsichert fühlen, sich fragen, welche gesellschaftlichen Veränderungen davon ausgehen und wie diese von der Politik gestaltet werden, ist verständlich. Aber eine "gefährliche Entwicklung" ist es nicht, wenn Menschen zu uns flüchten. Auch dann nicht, wenn es so viele sind.
Gefährlich ist, wenn jeden Montag Tausende "Abendspaziergänge" durch Dresden und einige andere Städte machen, um gegen ihre eigenen Hirngespinste zu protestieren. Gefährlich ist, wenn einzelne Ministerpräsidenten und Bundesminister sich diesen Leuten noch als Stichwortgeber andienen. Gefährlich ist, wenn sich Menschentrauben vor Flüchtlingsunterkünften zusammenrotten und es anscheinend für völlig normal halten, die dort ankommenden Menschen anzupöbeln oder anzugreifen. Gefährlich ist, wenn einige dann auch keine Hemmungen mehr haben, Nachtspaziergänge mit Feuerzeug und Brandbeschleuniger zu unternehmen. Gefährlich ist schließlich, dass islamistische und antiislamische Hassprediger letztlich ein gemeinsames Interesse verfolgen: Alle diejenigen auszugrenzen, die - jeweils aus ihrer Sicht - anders sind, anders denken, fühlen, aussehen. Fast müsste man dem Journalisten Matthias Matussek dankbar dafür sein, dass er diese Nähe mit seinem unsäglichen Facebook-Eintrag zu den Anschlägen von Paris einmal offengelegt hat.
Eine Krise haben wir, aber die Flüchtlinge spielen dabei nur eine Nebenrolle. Genauso könnten sich die Aggressionen der angeblich nur besorgten Bürger auch gegen andere Minderheiten richten. Die eigentliche Krise müsste deshalb Pegida-Krise genannt werden. In ihr entscheidet sich, ob wir uns in dunkelste Kapitel unserer Geschichte zurück grölen lassen. Oder ob wir als wirklich offene, demokratische und an den abendländischen Werten der Aufklärung orientierte Gesellschaft aus ihr hervorgehen.
Burkhard Winsemann