"Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Eisenbahnnetzes". So lautet ein berühmtes Lenin-Zitat. Was der jungen Sowjetunion die Elektrifizierung war, ist der alternden Bundesrepublik die Digitalisierung. Ein must have, ein Zaubermittel, das alles wieder in Ordnung bringt. Nicht nur im wirklichen Leben, wo rasante Veränderungen schon stattgefunden haben und noch rasantere bevorstehen. Auch und gerade für die Politik ist sie ein Zaubermittel. Der Feenstaub der politischen Kommunikation, das bisschen Glamour, das es braucht, um der eigenen politischen "Erzählung" (ein Schelm, wer da an Märchen denkt) bei den Bürger_innen Gehör und Glaubwürdigkeit zu verschaffen.
Tatsächlich ist Digitalisierung kein Hexen- sondern Handwerk. So ein Projekt muss sorgfältig konzipiert und dann auch mit Blick fürs Detail abgearbeitet werden. Man lernt es entweder auf die anstrengende, mit vielen unerwarteten Zusatzaufgaben gespickte Tour, bezieht zukünftige Anwender_innen und Personalräte mit ein, macht beim Softwarelieferanten Druck in Sachen Ergonomie und Barrierefreiheit - und es funktioniert. Oder man lernt es eben auf die ganz harte Tour: Wenn man sein Vorhaben zügig verwirklicht hat und dann leider nichts wirklich funktioniert. Denken wir noch mal ans Eisenbahnwesen: Wer kennt sie nicht, die dortigen Ikonen aus der Frühzeit der Digitalisierung? Die Fahrkartenautomaten, die den Möchtegern-Fahrgast so lange Schleifen drehen lassen und in den Wahnsinn treiben, bis der Zug abgefahren ist?
Beim Umgang mit der Digitalisierung wünsche ich mir von den Wahlkämpfenden deshalb ein bisschen weniger Zauberer-Attitüde und ein bisschen mehr Demut vor den handwerklichen Mühen der Ebene. Um Verständnis dafür zu entwickeln, können sie im eigenen unmittelbaren Umfeld anfangen, bei ihren digitalen Medien.
Ganz sicher ist es nur ein dummer Zufall, dass die Website ausgerechnet jener Partei, die einen IT-Unternehmer als Spitzenkandidaten aufgestellt hat, mich dem Wahnsinn etwas näher gebracht hat. Die Suche nach dem Wahlprogramm fühlte sich irgendwie genauso an, wie dem Automaten eine Fahrkarte zu entlocken. Irgendwann, nach dem siebten oder achten Link - mindestens einer davon tot (Error 410 Gone) - habe ich es doch noch gefunden.
Burkhard Winsemann