Neulich habe ich mich böse verbremst und musste daraufhin einige Tage im Krankenhaus verbringen. Das ist - gerade in Corona-Zeiten - wenig unterhaltsam. So ergab es sich, dass ich mir die „Börse vor acht“ antat, was ich sonst tunlichst zu vermeiden suche.
"Der Dow Jones hat erneut die 30.000-Punkte-Marke überschritten. Setzt jetzt auch der DAX zum Sprung über die 14.000 an?" orakelt die tägliche Börsenberichterstattung. Dann befördert mich das von der diensthabenden Gesundheits- und Krankenpflegerin wärmstens empfohlene Schmerzmittel in einen kurzen, farbenfrohen Schlummer.
Ich liege an einem Strand, irgendwo in der Karibik, und scrolle mich durch die Jahresabrechnung meines Depots. Lauter satte Kursgewinne strahlen mit der Sonne um die Wette. Nicht nur von Pharma-, Medizintechnik- oder IT-Unternehmen. Ob Banken oder längst totgesagte Altindustrien, fast alle sind sie gut gelaufen. Nur nicht die, die nicht fliegen konnten. Und fast noch besser macht sich mein Betongold. Die Immobilienpreise steigen seit über 10 Jahren ungebremst weiter. Das Einzige, was mich plagt, ist die Frage, ob ich jetzt allmählich was verkaufen oder auf weitere kräftige Mietsteigerungen setzen soll. Da geht vielleicht noch was. Schließlich sucht sich niemand eine kleinere Wohnung, wenn die Möglichkeiten, sich woanders aufzuhalten, so eingeschränkt sind. Corona hat auch sein Gutes, denke ich. Wenigstens, wenn man sich zur "gehobenen Mittelschicht" zählen kann.
Die Tagesschau beendet meinen Traum von Luxusproblemen und holt mich in die Realität zurück. Es geht um die Verlängerung des Lockdown, es geht um die zunehmenden Sorgen, wie lange die Menschen die Ausnahmesituation psychisch noch durchstehen können. Wie lange Millionen noch über die Runden kommen, die in Kurzarbeit sind oder als Selbstständige ihre Tätigkeit nicht ausüben können. Wie lange ganze Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft, wie etwa Kultur und Gastronomie, noch stillstehen können, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen. Und es geht um weitere Milliarden an öffentlichen Mitteln, die deswegen zusätzlich bereitgestellt werden sollen.
Was fehlt ist die Frage, wie wir zukünftig mit den immensen Kosten der Corona-Pandemie umgehen wollen. Es ist gut, dass Bund und Länder die Schuldenbremse ohne Zögern gelockert haben, und es spricht alles dafür, sie nicht überhastet wieder anzuziehen. Aber mehr als 500 Mrd. Euro oder bis zu 1,5 Billionen Euro, wenn man die Mittel für Unternehmensbeteiligungen und Kredite mit einbezieht, sind schon eine Hausnummer. Ginge es um 500 Millionen Euro, so würde über die Finanzierung erbittert gestritten. Aber Kosten dieser Größenordnung, dieser „Elefant im Raum“ verschlägt doch den meisten die Sprache.
Nicht aber Bovi. Unser Bürgermeister lässt sich auch von großen Tieren nicht so leicht einschüchtern. Schon im März hat er einen Lastenausgleich vorgeschlagen. Damit lehnt er sich an das historische Vorbild des Lastenausgleichsgesetzes nach dem 2. Weltkrieg an. Zu Recht, meine ich. Natürlich ist die Corona-Pandemie in ihren Auswirkungen nicht mit diesem zu vergleichen. Aber eine ganz wichtige Übereinstimmung darf nicht übersehen werden: Viele werden von Corona und den Maßnahmen zu seiner Eindämmung mit voller Wucht getroffen. Einige andere aber nicht – so wie in meinem Traum. Gleichzeitig wissen wir: Nur durch eine gemeinsame Anstrengung aller, durch solidarisches Handeln im Alltag können wir das Virus in die Schranken weisen. Da ist es nur angemessen und konsequent, wenn auch die wirtschaftlichen und finanziellen Belastungen, die sich daraus ergeben, solidarisch getragen werden.
Auch bei der konkreten Umsetzung ist ein Blick zurück auf den historischen Lastenausgleich übrigens empfehlenswert. Einer seiner wesentlichen Pfeiler war eine Vermögensabgabe, die in 30 Jahresraten zu entrichten war. Das passt schon ganz gut zu den Zeiträumen, die für die Tilgung der Corona-Kredite eingeplant sind.
Das Letzte wäre es (und deshalb hat die Redaktion mich um diese ungewöhnlich ernsthafte Kolumne an dieser Stelle gebeten), die finanziellen Corona-Lasten weiter achselzuckend weglächeln zu wollen. Wer das versucht, bereitet einem neuerlichen Rückbau von öffentlichen Dienstleistungen und Infrastrukturen den Weg.
Burkhard Winsemann