Hanseatische Zurückhaltung in jeder Hinsicht muss man dem Senat beim Lebensarbeitszeitkonto bescheinigen. Nicht nur war unsere Landesregierung - bevor sie sich grundsätzlich in dieser Frage positionierte - zu schüchtern, mal mit den Gewerkschaften und dem Gesamtpersonalrat über Möglichkeiten einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung zu reden. Auch inhaltlich schöpft die neue Arbeitszeitverordnung die Möglichkeiten bei Weitem nicht aus. Nicht den gegenwärtigen Rahmen des Arbeitszeitgesetzes, und erst recht nicht das, was zukünftig möglich sein könnte.
Denn die Ampel hat sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, „Wünsche nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen“ und dafür am Arbeitszeitgesetz herumzufummeln. Wie weit dann der gesetzliche Rahmen gefasst sein wird, ist zwar noch unklar. Man kann sich aber leicht ausmalen, dass es einen ordentlichen Schluck aus der Flexibilisierungpulle geben wird, denn ein grundsätzliches Interesse an flexiblen Arbeitszeiten äußern ja auch viele Arbeitnehmer:innen. Sie denken dabei an ihre Souveränität, ihre Freiheit, selbst zu entscheiden, wann Arbeit und wann Freizeit ist. Flexibilität kann aber auch heißen, dass man sich nach den Wünschen des Arbeitgebers verbiegen muss. Um welche Flexibilität es geht, wessen Wünsche bedient werden, wird sich erst noch zeigen.
Manche finden vielleicht auch, dass Freizeit überbewertet wird. Nach zwei Jahren Corona, in denen wir uns aus purer Verzweiflung in unserer Freizeit mit den wunderlichsten Sachen beschäftigt haben. Brot backen? Ok, auch wenn nicht jeder Versuch köstlich gelungen ist. Masken nähen war eine Zeitlang auch noch von praktischem Nutzen. Aber bevor ich jetzt das Klöppeln anfange, damit mir nicht die Decke auf den Kopf fällt, stelle ich meine Zeit doch lieber meinem Arbeitgeber zur Verfügung. Und schiebe vielleicht ganz im Sinne des Lebensarbeitszeitkontos all die angesparten Stunden ans Ende des Berufslebens. Zumal doch in schöner Regelmäßigkeit öffentliche Überbietungswettbewerbe zum Thema Renteneintrittsalter dargeboten werden. 70, 73, 75 – darf es auch ein bisschen mehr sein?
Auch aus einem anderen, ganz praktischen Grund finde ich die Aussicht auf eine 60-Stunden-Woche durchaus positiv – jedenfalls, wenn nicht gleichzeitig Homeoffice-Pflicht gilt. So kann ich nach der Arbeit direkt in mein Bett sinken und muss mir keine Gedanken machen, wie ich zuhause ohne russisches Gas mehr als 12 Grad erreichen kann.
Burkhard Winsemann